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Reisebericht Nyksund: Es war einmal eine Geisterstadt

Geisterstadt Nyksund Norwegen

Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man nicht nach Nyksund auf den Vesterålen. Dafür liegt es zu weit weg von allem – deshalb bin ich heute ausnahmsweise mit dem Auto unterwegs.

Nachdem ich Myre passiert habe, das ist das letzte Dorf vor Nyksund, brauche ich noch eine halbe Stunde, bis ich das winzige Dörfchen erreiche. Die letzten Kilometer sind eine einzige Aneinanderreihung von Schlaglöchern auf einer buckeligen Schotterpiste.

Doch obwohl ich im Schritttempo unterwegs bin, vergeht die Zeit im Auto jetzt rasend schnell für mich – der Weg schlängelt sich zwischen den schroffen und schneebedeckten Bergen rechts von mir entlang der wilden Nordsee links von mir.

Immer wieder bietet sich ein toller Ausblick auf die kleinen, vorgelagerten Inselchen, teilweise ragen nur Felsbrocken aus dem Meer, an denen die Wellen brechen. Nur ein Fahrstreifen führt nach Nyksund und ich frage mich die ganze Zeit, was passieren würde, wenn mir jetzt ein Auto entgegen kommen würde.

Aber es kommt kein Auto.

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Ich bin verabredet in Nyksund, doch obwohl ich spät dran bin (das bin ich ganz gerne mal, aber das ist eine andere Geschichte), kann ich nicht anders, als immer wieder stehen zu bleiben, um Fotos zu machen.

Die Sonne scheint und nur einzelne Wolkenschleier stören den blauen Himmel, das kommt nicht oft vor, Ende Oktober, hier auf den Vesterålen im Norden Norwegens. Ich freue mich also über perfektes Fotowetter – was bin ich doch wieder mal für ein Glückspilz!

Irgendwann komme ich trotzdem an. Rune Mikkelborg, 42, Pfeifenraucher im Holzfällerhemd und gebürtiger Vesterålener, begrüßt mich mit den Worten: „Willkommen in Nyksund – Entschuldigung für das schöne Wetter!“.

Am Schönsten sein es hier, so erklärt er mir , wenn „ein richtig schöner Sturm mit Regen oder Hagel“ über das Dorf fegt. Soso, denke ich mir, die hier Menschen scheinen also ähnlich speziell zu sein wie der Ort selber.

Wir beginnen unseren „Stadt“-Rundgang und Rune erzählt mir zunächst aus seinem Leben. Musiker ist er, verdient sein Geld mit Unterricht an der Musikschule in Myre. Er ist auf den Vesterålen geboren, in Sortland, 50 Kilometer südlich von hier.

Als Rune jünger war, hat Rune die Vesterålen auch mal verlassen, „wie man das so macht als junger Mensch“. Hat in Oslo gelebt und in Trondheim, später in Tromsø. Doch die Großstädte fand er langweilig – deshalb kam er 2002 zurück und zog nach Nyksund.

Außer Rune wohnen noch 21 weitere Menschen hier. Die Tendenz ist steigend: In den neunziger Jahren war Nyksund eine Geisterstadt, einzig ein deutscher Sozialpädagoge kam hier regelmäßig mit seinen auffälligen Jugendlichen her, um sie durch ein Leben in der Einsamkeit zu therapieren.

Anfang des neuen Jahrtausends entdeckten Künstler und Freigeister aus ganz Europa den Ort wieder, zogen in die halb verfallenen Fischerhäuser und begannen, den Ort wieder aufzubauen.

Rune schwärmt von der Pionierstimmung zu dieser Zeit. „Wir kamen in ein fast verfallenes Dorf und für uns war praktisch alles möglich„, sagt er. Regelmäßig fanden Musikfestivals statt, es gibt eine Fläche im Dorf, die nur dafür freigehalten wird: Links die Bühne, rechts die Bar, hinten eine mit Graffities besprühte Mauer und vorne der Hafen – fertig ist das Festivalgelände. Über die laute Musik beschwert sich niemand – schließlich feiert das ganze Dorf mit.

Ein Proberaum im Ölfass

Einen weiteren Platz zum Musik machen gibt es in Nyksund: Über dem Dorf thront ein riesiges Ölfass, das der Slowake Michal einst dem Ölkonzern Shell günstig abgekauft hat. Michal stellte das Fass auf einen Hügel über der Stadt, baute eine Tür ein und verzierte es mit Hilfe seines Schweißbrenners – ein wunderbarer Platz für die Geigenübungen von Michas Freundin.

Noch eine Anekdote fällt Rune ein, als wir vor dem Fass stehen: Irgendwann kam Michal auf die Idee, ein weiteres Loch zu schneiden, für den Blick auf die Nordsee. Also baute er ein Fenster ein – seine Liebste jedoch war entsetzt:

[quote_center]Du hast die ganze Akkustik kaputt gemacht![/quote_center]

Das Fenster blieb, das Loch schweißte Michal einfach wieder zu. In Nyksund wird nicht lange geplant – wer eine Idee hat, der macht sich daran, sie umzusetzen. Korrigieren kann man sie immer noch, und Baugenehmigungen sind hier am Ende der Welt nicht ganz so wichtig.

Rune und das Ölfass von Nyksund

Rune und ich spazieren weiter, es geht wieder einen Hügel hinauf. Vorbei an der Kirche, die viel zu groß für das Dorf ist: Als sie um 1900 gebaut wurde, kamen Fischer von weit her, die Fischgründe um Nyksund waren legendär.

Die Fischer jenerseits trieben es jedoch damals zu bunt für den Geschmack der Geistlichen, der Schnaps floss wohl literweise. Also musste das Gotteshaus her, das heute locker auch das fünffache der gesamten Dorfbevölkerung beherbergen könnte.

Zahllose Geschichten weiß Rune aus Nyksund zu berichten. Die Letzte für meinen Besuch lässt er jedoch von einem Besucher erzählen, der in den 80ern einen Kurzfilm über Nyksund gedreht hat. „Es war einmal ein Fischerdorf“ heißt der Film, und  er erzählt in melancholischen Bildern vom vermeintlichen Niedergang dieses Küstenörtchens auf den Vesterålen.

Noch heute sprechen viele deutsche Reiseführer von der Geisterstadt Nyksund – doch die gibt es nicht mehr. Auch jetzt, im Winter, wird fleißig weiter gewerkelt an der Zukunft des Dorfes, die bunt sein soll: Häuser werden restauriert und gestrichen, Bilder werden gemalt, Ausstellungen vorbereitet. Boote repariert und Konzerte geplant. Das Dorf lebt wieder, so wie zuletzt wahrscheinlich um 1900, als die Fischer hier ihren Fang feierten.

Rune wird dabei bleiben. „Mindestens die nächsten zehn Jahre“ will er hier noch bleiben. Oder auch länger.

Ich dagegen muss mich verabschieden und kann auf ein Wiedersehen nur hoffen. Als ich wieder auf der Schotterpiste Richtung Myre unterwegs bin, sehe ich im Rückspiegel, wie sich dunkle Wolken über dem Künstlerdorf formatieren. Es wird wieder ungemütlich werden in Nyksund, denke ich.

Rune wird sich freuen.

Nyksund: Die „Geisterstadt“ auf einem Blick

Die Fass-Akustik stimmt wieder – der Ausblick ist dafür weg.

Festivalgelände von Nyksund mit Bühne

Künstlerhaus in Nyksund

Viel zu groß: Kirche von Nyksund

→ Ich finde, dass Dörfer wie Nyksund ganz besonders enteckenswert sind! Im Weltreiseforum gibt es eine ganze Sammlung von ähnlichen Orten – schau mal rein!

→ Bei koeln-format.de gibt es einen weiteren lesenswerten Reisebericht aus Nyksund.

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Disclosure: Meine Reise nach Nyksund wurde unterstützt von Visit Norway und Visit Vesterålen.